Tractatus-Preisträgerin 2022 Marie-Luise Knott

Preisträgerin des Tractatus 2022 ist die Autorin Marie Luise Knott, die in ihrem Buch „370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive“ die Erfahrungs- und Gedankenwelt der Philosophin Hannah Arendt und des Schriftstellers Ralph Ellison in Beziehung setzt und so neue Perspektiven auf Debatten um Rassismus und Identitätspolitik eröffnet.

Der mit 25.000 Euro dotierte Tractatus wird alljährlich vom Verein Philosophicum Lech für herausragende Leistungen im Bereich der philosophischen Essayistik vergeben. Er soll verlässlich Auskunft über höchste Qualität geben und versteht sich als ein Beitrag zur Standortbestimmung in philosophisch und gesellschaftlich relevanten Diskursen. Exemplarisch prämiert mit dem Tractatus 2022 wird ein Buch der deutschen Autorin, Kritikerin und Übersetzerin Marie Luise Knott. In „370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Ellison“ setzt sie die Gedankenwelt der deutsch-jüdisch-amerikanischen Philosophin sowie des afroamerikanischen Schriftstellers vor dem historischen Hintergrund in Relation, wobei sich neue Sichtweisen auf derzeit hochbrisante Debatten auftun. „Wie sich Gesellschaften nachhaltig verändern lassen und wie wir lernen, uns als Gleiche anzuerkennen, ist die Kernfrage, bei der Marie Luise Knott ansetzt“, wird in der Jurybegründung u. a. die hohe Relevanz und Aktualität des Werks gewürdigt. Die feierliche Verleihung des Tractatus 2022 findet am Freitag, den 23. September um 21 Uhr im Rahmen des Philosophicum Lech statt, das heuer sein 25-jähriges Jubiläum begeht. Unter dem Titel „Der Hass. Anatomie eines elementaren Gefühls“ wird sich die Tagung von 20. bis 25.09.2022 einem ebenso weitreichenden wie brandheißen Thema widmen.  www.philosophicum.com

Um überragenden Publikationen auf dem zunehmend an Bedeutung und Brisanz gewinnenden Feld geistiger Auseinandersetzung und Standortbestimmung entsprechende Anerkennung und größere Resonanz zu verleihen, wurde 2009 der Tractatus ins Leben gerufen. Angeregt vom Vorarlberger Schriftsteller Michael Köhlmeier und dank privater Sponsoren mit 25.000 Euro hoch dotiert, gilt der Essay-Preis des Philosophicum Lech seither auf diesem Gebiete als einer der renommiertesten im deutschsprachigen Raum. Die Liste der prämierten Werke (www.philosophicum.com/tractatus/der-tractatus) lässt die enorme Bandbreite philosophisch-kulturwissenschaftlicher Essayistik erkennen und kündet zugleich von jeweils großer Brillanz. Zentrale Kriterien für die Vergabe des Tractatus sind die Originalität des Denkansatzes, die Gelungenheit der sprachlichen Gestaltung und die Relevanz des Themas. Unter Vorsitz des wissenschaftlichen Leiters des Philosophicum Lech Konrad Paul Liessmann (nicht stimmberechtigt) berät die hochkarätig besetzte Jury – bestehend aus der Philosophin Barbara Bleisch (CH), dem Schriftsteller und ehemaligen Verleger Michael Krüger (D) und dem Autor und Journalisten Thomas Vašek (A) – bereits ab Frühjahr über die engere Auswahl preisverdächtiger Publikationen. Die jeweils im Juli veröffentlichte Shortlist versteht sich als ausdrückliche Würdigung und Lektüreempfehlung.

www.philosophicum.com/tractatus/shortlist/shortlist-2022

Nach ausführlicher Jurydiskussion fiel heuer die Wahl auf das Buch „370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Ellison“ der in Berlin lebenden freien Autorin, Kritikerin und Übersetzerin Marie Luise Knott. Titelgebend für das im März 2022 im Verlag Matthes & Seitz Berlin erschienene Buch ist, dass die berühmte jüdische Philosophin, die 1941 in die USA flüchten musste, und einer der wichtigsten afroamerikanischen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts nur einen Zahlendreher entfernt in derselben Straße wohnten: Hannah Arendt in der Nähe der Columbia University und Ralph Waldo Ellison weiter nördlich in Harlem. Das die beiden tatsächlich Verbindende als Ausgangspunkt für Knotts ideengeschichtlichen Essay ist eine damalige Debatte, zu der sich ein Brief von Arendt an Ellison als Durchschlag in ihrem Nachlass fand. In diesem leistet sie Abbitte für ihre Unbedachtheit in einem 1959 veröffentlichten Aufsatz, in dem sie zu den Ereignissen in Little Rock im Jahre 1957 Stellung nahm. Damals musste die Nationalgarde einschreiten, als Protestierende höchst aggressiv schwarze Jugendliche am Schulbesuch hindern wollten. Ellisons scharfe Replik auf die Ausführungen Arendts im Jahre 1965 quittierte sie in dem Brief u. a. mit „Sie haben völlig Recht“ und dem Geständnis, dass sie „die Komplexität der Lage nicht verstanden habe“.    

Dazu erläutert Barbara Bleisch in der Jury-Begründung einleitend: „Wer sich heute vertieft mit Hannah Arendt auseinandersetzen will, kommt nicht umhin, bei aller Bewunderung für die politische Denkerin zuzugestehen, dass sie nach ihrer Emigration in die USA dem amerikanischen Rassismus gegenüber seltsam blind zu bleiben schien. Ihr Essay ‚Reflections on Little Rock‘ sorgte bereits bei seinem Erscheinen 1959 für tiefe Irritation, weil Arendt mit Blick auf die Frage, wie die Segregation an öffentlichen Schulen zu beheben sei, Kritik an der Bürgerrechtsbewegung übte. Ihre Skepsis gründete in Arendts Verständnis von Öffentlichkeit und Privatsphäre und ihrer Sorge, Kinder für politische Zwecke zu missbrauchen.“ Auch die Kritik liberaler Freunde prallte zunächst an Arendt ab.

Anhand 17 erhellender „Hinweise“ werden von Marie Luise Knott die Hintergründe von Hannah Arendts Brief beleuchtet. Indem sie die gegensätzlichen Standpunkte analysiert und bezüglich unterschiedlicher Erfahrungshorizonte kontextualisiert, entfaltet die Autorin ein eindrückliches Mosaik an tiefgreifenden Reflexionen. Auch auf Gemeinsamkeiten von Arendt und Ellison wird verwiesen, haben sich bspw. doch beide gegen eine Verfestigung von Identitätsschemata gewendet. Dass ihr Buch als Beitrag zur derzeitigen Rassismus-Debatte verstanden werden kann, mache die Sache nicht einfacher, wie Knott anmerkt. „Doch über aktuelle Themen nachzudenken, ohne die historische Dimension mitzudenken, ist unmöglich.“ Diese von Knott mit Bravour vorgeführte Herangehensweise würdigend, heißt es in der Begründung der Tractatus-Jury: „Indem sie Arendts Denkwelten mit jenen des afroamerikanischen Schriftstellers Ralph Ellison konterkariert, wirft sie nicht nur neue Sichtweisen auf jüdische und afroamerikanische Erfahrungen im 20. Jahrhundert, sondern auch auf brandaktuelle Debatten um Rassismus und Identitätspolitik. Der profunden Arendt-Kennerin Marie Luise Knott, die bereits 2011 mit einem Buch über die Philosophin von sich reden machte, gelingt es mit ‚370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Ellison‘, den eigenen Anspruch einer ‚Gedankenexkursion‘ stilsicher und kenntnisreich einzulösen.“ Abschließend hebt Bleisch die durch den prämierten Essay deutlich werdende Haltung von Hannah Arendt hervor: „In der Lektüre begegnet einem eine Philosophin, die zugesteht, sich geirrt zu haben – und gerade in ihrer Sehnsucht danach, aufrichtig verstehen zu wollen, bis heute beeindruckt.“

Pressestimmen:

„Marie Luise Knott schreibt elegant, einfühlsam, gedankenreich. Sie spricht von Arendts ‚Sang und Klang‘ – und hat ihren eigenen. Sie packt heikle Themen an und tut dies zugleich behutsam und bestimmt.“ Dieter Thomä, Frankfurter Allgemeine Zeitung

„Das Verständnis für unaufhebbare Erfahrungsunterschiede und die Akzeptanz des Verschiedenseins prägen [Marie Luise Knotts] Lektüre von Arendt und Ellison. […] Ihr Buch legt analytisch-erzählend beider Unterschiede frei, um ein mögliches gemeinsames Drittes in den Blick zu bekommen.“ Thomas Meyer, DIE ZEIT

„Marie Luise Knott folgt in ihrem lesenswerten Buch Hannah Arendt und Ralph Ellison, deren Denken sich in vielem ähnelt.“ Ulrich Gutmair, Philosophie Magazin

Zur öffentlichen Verleihung des Tractatus wird am Freitag, den 23. September 2022 um 21:00 Uhr geladen. Den Höhepunkt werden die Laudatio, diesmal gehalten von Barbara Bleisch, und die Dankesrede der Preisträgerin bilden. Zum festlichen Rahmen gehört u. a. die Uraufführung eines eigens für diesen Anlass komponierten Streich-Trio-Satzes von Marcus Nigsch. Der Festakt wird nur eines der Glanzlichter des 25.Philosophicum Lech sein. Bei der Jubiläumsveranstaltung von20. bis 25. September 2022 werden wieder namhafte Vortragende aus dem gesamten deutschsprachigen Raum das Thema „Der Hass. Anatomie eines elementaren Gefühls“ in seiner ganzen Bandbreite ausloten und mit dem Publikum diskutieren. Den Auftakt geben am Dienstag, den 20. September die „Philosophicum Dialoge“, die nach ihrer erfolgreichen Premiere im letzten Jahr diesmal unter dem Titel „Zeitenwende – Wendezeit: Europa im Umbruch“ stehen. Stets am Puls der Zeit steht die transdisziplinäre Tagung bereits seit einem Vierteljahrhundert für anregenden geistigen Austausch in der einladenden Höhenregion von Lech am Arlberg.

Weitere Informationen unter www.philosophicum.com.

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