Tractatus-Preisträger 2018
Thomas Bauer
Preisträger des Tractatus 2018 ist der Arabist und Islamwissenschaftler Thomas Bauer, dessen vieldiskutiertes Buch „Die Vereindeutigung der Welt“ exemplarisch mit dem renommierten Essaypreis des Philosophicum Lech prämiert wird.
Bereits zum zehnten Mal wird heuer im Rahmen des Philosophicum Lech der Tractatus verliehen. Mit 25.000 Euro hoch dotiert, zählt der Preis für philosophische Essayistik zu den bedeutendsten Auszeichnungen auf diesem Gebiet im deutschsprachigen Raum. In die Liste prominenter Preisträger reiht sich dieses Jahr Thomas Bauer, dessen neuestes Buch mit einer zunächst verblüffenden Zeitdiagnose weit über Wissenschaftskreise hinaus für Furore sorgt. „Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“, lautet der Titel der kritischen Abhandlung. Im Februar 2018 im Reclam-Verlag ersterschienen, liegt der Bestseller mittlerweile in 8. Auflage und auch als Hardcover vor. Bauers Essay entspricht dabei ganz der Intention des Tractatus, ein wertvoller Beitrag zur Standortbestimmungin philosophisch und gesellschaftlich relevanten Diskursen zu sein.
„Philosophie ist Freiheit. Sie hält den Raum des Fragens offen, sie erschüttert verfestigte Denkmuster und Vorurteile. In ihren besten Momenten verhilft sie uns dazu, die Welt in einem neuen Licht zu sehen. Eben das gelingt Thomas Bauer in seinem Essay ‚Die Vereindeutigung der Welt‘“, schreibt Thomas Vašek einleitend in der Jury-Begründung zur Verleihung des Tractatus 2018. Der Gründungschefredakteur der Philosophiezeitschrift „Hohe Luft“ ist neues Jury-Mitglied in Nachfolge von Franz Schuh – dem Schriftsteller und profilierten Kritiker, der in einem Artikel für „DIE ZEIT“ ebenfalls nur lobende Worte für den Essay von Thomas Bauer fand und u. a. meinte: „Die Konstellation Befreiung durch Vielfalt und Verengung durch Vereindeutigung handelt dieses Taschenbuch glänzend ab.“
Neben Thomas Vašek finden sich in der dreiköpfigen Tractatus-Jury die Philosophin und Journalistin Barbara Bleisch sowie der Schriftsteller und ehemalige Verleger Michael Krüger. Unter Vorsitz von Konrad Paul Liessmann (nicht stimmberechtigt), dem wissenschaftlichen Leiter des Philosophicum Lech, wurde zunächst wieder eine Shortlist für den Tractatus von sechs herausragenden Publikationen erstellt. In die engere Auswahl für den Essay-Preis des Philosophicum Lech zu kommen, darf bereits als nachdrückliche Würdigung verstanden werden – zudem als Lektüreempfehlung, spiegelt die Shortlist doch im Sinne der vorrangigen Kriterien für die Vergabe des Tractatus sowohl die gelungene, allgemein verständliche sprachliche Gestaltung als auch die Relevanz des Themas wider: https://www.philosophicum.com/tractatus/shortlist-2018.html
Ein weiterer Aspekt ist die Originalität des Denkansatzes, was bei der Prämierung des Essays von Thomas Bauer besonders ins Gewicht fiel. Dazu Thomas Vašek in der Jury-Begründung: „Seine These ist überraschend. Wir leben nur scheinbar in einem Zeitalter unüberblickbarer Vielfalt. Tatsächlich verlieren wir immer mehr die Bereitschaft, Pluralität und Mehrdeutigkeit zu ertragen. Unsere ‚Ambiguitätstoleranz‘ schwindet.“ Bei letzterem handelt es sich um einen zentralen Begriff in Bauers Analyse. Gemeint ist die Fähigkeit, Uneindeutigkeiten wie auch Widersprüche auszuhalten und Ambivalenzen zu akzeptieren. Ambiguität war bereits ein Schlüsselbegriff in dem 2011 von Bauer veröffentlichten Buch „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“, in dem er eine gründliche Neubewertung des Verhältnisses zwischen „Abendland“ und „Morgenland“ vornahm.
Thomas Bauer ist seit 2000 Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 2012 wurde er in die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste aufgenommen. Im selben Jahr erhielt er den „Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis“. Seine Forschungen umfassen u. a. Themen der Kulturgeschichte und der Historischen Anthropologie. Sein aktuelles Buch zeigt den hochgeschätzten Wissenschaftler als fundierten Zeitkritiker, der eine zunehmende „Ambiguitätsintoleranz“ konstatiert, wobei er diesen Befund auf Feldern wie Religion, Kunst und Politik exemplifiziert. „Bauer belegt seine These nicht nur mit scharfen Beobachtungen aus vielen Lebens- und Kulturbereichen, vom Verlust der Vielfalt bei Apfelsorten bis zum religiösen Fundamentalismus. Er argumentiert auch überzeugend, warum unsere Welt Mehrdeutigkeit braucht. Bauers kleines Buch hat die Leichtigkeit und Eleganz, die einen großen Essay auszeichnen. Es ist selbst ein wichtiger Beitrag zu jener Vielfalt, für die der Autor so eindringlich plädiert“, so die Jury-Begründung abschließend.
Die feierliche Verleihung des Tractatus, dessen hohe Dotierung sich der großzügigen Unterstützung privater Sponsoren verdankt, erfolgt am 21. September 2018 um 21:00 Uhr in der Neuen Kirche Lech. Es ist nur eines der Glanzlichter des 22. Philosophicum Lech (19. – 23. September in Lech am Arlberg), das heuer unter dem Titel „Die Hölle. Kulturen des Unerträglichen“ die Kultur- und Ideengeschichte des Infernalischen wie auch brisante Entwicklungen der Gegenwart beleuchtet.
Biografie von Thomas Bauer
Thomas Bauer, geboren 1961 in Nürnberg, studierte in Erlangen Semitistik, Islamwissenschaft und Germanistik und habilitierte sich dort 1997. Seit 2000 ist er Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Universität Münster. Seine Forschungen umfassen Themen der Kulturgeschichte und der Historischen Anthropologie wie Liebe und Sexualität, Religiosität, Tod, Fremdheit und Ambiguitätstoleranz sowie die Geschichte der Klassisch-Arabischen Literatur und Rhetorik. Bauer war 2006-7 Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin, ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste und wurde 2013 mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ausgezeichnet.
Bibliographie (Auswahl) von Thomas Bauer
- Liebe und Liebesdichtung in der arabischen Welt des 9. und 10. Jahrhunderts. Wiesbaden: Harrassowitz 1998.
- Todesdiskurse im Islam. In: Asiatische Studien 53 (1999), S. 5-16.
- Vom Sinn der Zeit. Aus der Geschichte des arabischen Chronogramms. In: Arabica 50 (2003), S. 501-531.
- Rhetorik: Arabische Kultur. In: Rhetorik. Begriff – Geschichte – Internationalität. Hrsg. von Gert Ueding. Tübingen: Niemeyer 2005, S. 283-300.
- Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin: Verlag der Weltreligionen 2011.
- Musterschüler und Zauberlehrling: Wieviel Westen steckt im modernen Islam? In: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 31 (2012), S. 73-83.
- Islam und „Homosexualität“. In: Thomas Bauer, Bertold Höcker, Walter Homolka, Klaus Mertes: Religion und Homosexualität. Göttingen: Wallstein 2013, S. 71-89.
- Male-Male Love in Classical Arabic Poetry. In: The Cambridge History of Gay and Lesbian Literature. Hrsg. von E. L. McCallum und Mikko Tuhkanen. Cambridge: Cambridge University Press 2014, S. 107-124.
- “Ayna hādhā min al-Mutanabbī!“ Toward an Aesthetics of Mamluk Literature. In: Mamlūk Studies Review 17 (2013), S. 5-22.
- Ambiguität in der klassischen arabischen Rhetoriktheorie. In: Ambiguität im Mittelalter. Hrsg. von Oliver Auge und Christiane Witthöft. Berlin, Boston: De Gruyter 2016, S. 21-47.